Die Königstochter als Schlangenkönigin

Um Obernberg war folgende Sage verbreitet:

Im benachbarten Bayerlande lebte in uralter Zeit ein mächtiger König. Dieser hatte keine Kinder außer einer Tochter. Das machte ihm viel Kummer, da er gern gesehen hätte, dass ein Sohn nach seinem Tode den Thron besteige. Oftmals hatte er schon zu Gott um die Erfüllung dieses Wunsches gebetet, allein er blieb unerhört, und so wandte er denn seine ganze Liebe und Sorgfalt der Tochter zu. Einmal ging er mit ihr spazieren. Auf dem Wege begegnete ihm ein altes Weib, welches eine kleine Natter liebkoste.

„Ach, wie abscheulich!“ rief die Königstochter aus, als die Alte eben die Natter küsste. Bei diesen Worten fuhr das Weib auf, betrachtete längere Zeit die Königstochter und sagte dann zu ihr:

„Nun, weil Du das arme Tier gar so abscheulich findest, so sei von dieser Stunde an auch ein solches!“ Die Alte berührte das Mädchen sofort mit einem Stäbchen, welches sie in der rechten Hand hielt. Der König konnte es nicht hindern und gewahrte nun mit Schaudern, wie aus seiner geliebten Tochter eine Natter wurde, welche sich zu seinen Füßen legte und die kleinen Augen wie bittend zu ihm erhob. Dann sprach die Hexe: „Auch hier, bei Deinem Vater, wo man Dich hegen und pflegen würde, sollst Du nicht bleiben, sondern über das Wasser, welches die Grenze eures Landes ist, musst Du hinüber, damit Du alle Mühen und Plagen fühlst, welche ein so armes Tier, das Du verachtest, auszustehen hat!“ Und abermals berührte die Hexe mit dem Stabe die zur Natter gewordene Königstochter, und schnell wie der Blitz schoss diese in der angezeichneten Richtung fort.

Nun aber erhob sich der König, welcher während dieses Vorganges kaum seiner Sinne mächtig gewesen war und stürzte mit gezücktem Schwerte auf die Hexe los. Diese aber hielt ihm einfach den Zauberstab entgegen und drohte ihm gleiches Schicksal mit seiner Tochter, wenn er sich nicht sofort zurückziehe. Der König, welcher sah, dass hier mit Gewalt nichts auszurichten sei, nahm nun zu Bitten seine Zuflucht. Allein die beleidigte Hexe hatte für sein Flehen ein taubes Ohr. Da jedoch der König immer mehr in sie drang, dass sie ihm sein geliebtes Kind wieder zurückgebe und ihr Ehre, Reichtum und Ansehen versprach, so viel in seinen Kräften stehe, sagte sie endlich zu ihm:

„Ich habe wohl die Macht, jemanden zu verwünschen, nicht aber die Verwünschung wieder zurückzunehmen. Das einzige, was ich für Deine Tochter tun kann, ist, dass ich sie zur Schlangenkönigin erhebe und ihr dadurch ein erträgliches Los bereite. Lass daher eine ganz kleine, goldene Krone anfertigen und bringe sie nach drei Tagen wieder an diesen Platz; ich werde selbe holen und Deiner Tochter geben. Diese muß die Krone so lange tragen, bis sie durch die Strömung des Wassers ganz verschwunden ist. Sorge daher, dass das Gold rein ist, denn je lauterer dasselbe ist, desto eher verschwindet es, und Du kannst daher das Leiden Deiner Tochter abkürzen.“

Traurig ging der König nach Hause und ließ eine Krone vom reinsten Gold machen. Nach drei Tagen erschien die Hexe wirklich auf dem Platze, wo der König sie erwartete. Er übergab ihr die Krone und bat die Alte noch einmal, dass sie seiner Tochter gnädig sein möge. --

Nach dem Volksglauben nun hat diese Krone den Wert eines Königreiches, und die Schlange lege dieselbe manchmal ab, wenn sie an warmen Tagen aus dem Wasser hervorkomme. Hat nun jemand zur rechten Zeit ein weißes Tuch ausgebreitet, so legt die Königin die Krone darauf. Ist einer so glücklich und kommt mit der Krone, ohne von der Schlange bemerkt zu werden, über eine gewisse Grenze, so ist die Königstochter erlöst, und die Krone ist des Mutigen Eigentum. Bemerkt ihn aber die Schlange, so ist sie gezwungen, einen Pfiff zu tun, und dann kommen von allen Seiten Schlangen herbei, um die Krone ihrer Königin zu retten.



aus "Oberösterreichische Volks – Sagen"
gesammelt von Kajetan Alois Gloning
IV. Mythische Sagen