Der Zwergkönig in der „Hölle“

Ein Bauersmann aus Obernberg erzählte:

Als ich noch ein Knabe war, verbreitete sich in Obernberg plötzlich das Gerücht, ein Bauer sei vor einigen Tagen fortgegangen und nicht wieder gekommen. Sein ältester Sohn machte sich auf, ihn zu suchen, aber auch der blieb aus. Man konnte das nicht begreifen, und es entstanden allerlei Vermutungen. Nach acht Tagen endlich, an einem Sonntagmorgen, kamen beide in ihre Wohnung. Alles lief hin und der Bauer erzählte:

Als ich das Dorf verlassen hatte, setzte ich meinen Weg betrübt fort; denn, wie ihr wisst, hatte ich die Steuern zu zahlen, die Interessen zu berichtigen und noch viele andere Sachen zu besorgen. Gewöhnlich trug mir das Getreide so viel ein, um wenigstens das Wichtigste zu ordnen. Allein heuer wurde ich von Gott schwer heimgesucht, da meine Felder durch Hagelschlag verwüstet wurden und bald darauf mein Weib starb. Ich wollte zuerst die Verwandten meines Weibes besuchen, obwohl ich wenig Hoffnung hatte, etwas zu bekommen. Wie ihr wisst führt der Weg dahin durch die „Hölle“ (eine Schlucht, von welcher allerlei Sagen im Umlauf sind). Als ich dort hinkam, beschlich mich unwillkürlich der Gedanke, wenn sich doch jetzt ein guter Kobold meiner erbarmen möchte. Ich war ziemlich müde, setzte mich unter einen Baum und überdachte so meine missliche Lage. Da war es mir plötzlich, als ob ich hinter mir Stimmen vernähme. Verwundert blickte ich um, konnte jedoch niemanden bemerken. Ich dachte mir also, es sei Einbildung gewesen und verfiel wieder in schwermütige Gedanken. Abermals vernahm ich dieselben Töne, schaute umher, erblickte jedoch wieder nichts.

Diesmal konnte es aber keine Täuschung gewesen sein. Ich erhob mich also und ging dem Orte zu, woher ich die Stimmen zu vernehmen glaubte. Bald kam ich an das Gebüsch, welches mich jedoch nicht hinderte weiter zu schreiten. Nochmals vernahm ich die Laute und diesmal ganz nahe. Ich schritt also munter vorwärts, und bald bemerkte ich, dass das Gebüsch lichter wurde. Noch einige Schritte und ich hatte einen grünen Platz vor mir, auf welchem hundert kleine Gestalten herumhüpften und sich fröhlich unterhielten. In ihrer Mitte saß auf einem wunderschönen Wagen, der mit sechs Ziegenböcklein bespannt war, ein ebenso kleines Männchen, welches jedoch durch seine prachtvolle Kleidung und die Krone auf dem Haupte ausgezeichnet war. Ich hatte mich sogleich hinter einem Busch gebückt, um nun so ungestörter dem munteren Treiben der Zwerge zuzusehen. Ziemlich lange hatte ich sie schon beobachtet, als plötzlich einer, welcher von einem zweiten scherzweise verfolgt wurde, meinem Verstecke zugelaufen kam, um sich zu verbergen. Ganz nahe bei mir erblickte er mich und tat einen lauten Schrei, worauf sofort alle sich um ihn versammelten. Mit seinen kleinen Fingern deutete er auf mich, und im Augenblicke war ich umringt. Sie deuteten mir, ihnen zu folgen, und führten mich nun zu dem Männchen im Wagen, welcher ihr König zu sein schien. Dieser fragte mich, wie ich hierher käme, und ich antwortete ihm, dass ich ihre Stimmen vernommen habe und dem Schalle derselben nachgegangen sei; dann klagte ich ihm meine Not, und das schien ihn zu rühren. Er befahl den Zwergen, sich um ihn zu versammeln und mich in ihre Mitte zu nehmen. Dann fuhr er einem kleinen Hügel zu, welcher sich bei seiner Annäherung von selbst auftat. Nun ging es durch einen breiten, prächtig erleuchteten Gang lange fort, bis wir endlich in eine unabsehbar große Höhle kamen. Dort ließen mich die Zwerge los, und ich konnte nach Belieben umhergehen.

Ich kam aus dem Erstaunen nicht heraus; denn, wenn ich etwas angesehen hatte, und ich glaubte, es könne nichts schöneres mehr geben, so übertraf gleich der nächste Gegenstand den früheren an Schönheit und Wert. Gold und Silber lag aufgehäuft umher, wie bei uns nach einer ausgiebigen Ernte das Getreide auf den Schüttböden. Nach einiger Zeit kam ein Zwerg zu mir und fragte mich, ob ich keinen Hunger habe, worauf ich natürlich mit „Ja“ antwortete. Er führte mich in ein anstoßendes Gemach, wo bereits alle Zwerge mit dem Könige an der Spitze bei der Tafel saßen. Da wurden Speisen aufgetragen, die ich vorher nie gesehen hatte. Die Zwerge waren sehr munter und scherzten. Mir wurde so viel vorgelegt, dass ich glaubte, ich werde nicht die Hälfte verzehren können, aber es war alles so gut, dass ich nochmals meinen Teller hinhielt, um etwas zu bekommen. Nach dem Essen wurde Wein und Bier aufgetragen, und da ich Bier gewohnt bin, so nahm ich von demselben. Als auf diese Art nach meiner Rechnung zwei Tage oder, wie ihr sagt, sieben Tage vergangen waren, ließ mich der Zwergkönig zu sich rufen und fragte, wie es mir hier gefalle. Ich antwortete, dass ich gerne mein Lebtag hier bleiben möchte, wenn nicht zu Hause meine Kinder ängstlich auf mich warteten. Nun, sagte er, du sollst morgen früh wieder entlassen werden. Damit du aber beständig des Zwergkönigs gedenkst, hast du Zeit genug, heute von den Sachen auszusuchen, was dir gefällt. Ich werde dir einige Zwerge mitgeben, damit sie dir alles auf einen Platz zusammentragen.

Ich bedankte mich bei dem Könige, so gut es gehen wollte, für seine Güte und ging rasch ans Werk. Aber das war schwer. Ich wusste nicht, was ich aussuchen sollte; denn, wenn ich glaubte, dies wäre am schönsten, so gefiel mir jenes noch besser. Endlich entschied ich mich doch für Gold und Silber, weil ich dachte, es wären dies die gangbarsten Dinge bei uns. Ich ließ mir also so viel hintragen, als ich glaubte schleppen zu können. Am anderen Morgen nahmen der König und die Zwerge Abschied von mir und begleiteten mich durch den Gang. Der Hügel öffnete sich wieder von selbst, und ich war wieder auf dem Platze, wo ich die Zwerge zuerst gesehen hatte. Auf einmal erblickte ich einen jungen Mann, der über die Wiese gegangen kam und gleich mir einen Sack auf der Achsel trug. Ich betrachtete ihn näher und erkannte zu meiner Freude meinen Sohn. Ich erzählte ihm meine Geschichte, und zu meinem Erstaunen vernahm ich, dass ihm Ähnliches begegnet sei.

Seither ist mancher Bewohner von Obernberg und Kirchdorf zur Hölle gegangen, aber keiner von ihnen hat ein Bergmännlein gesehen.



aus "Oberösterreichische Volks – Sagen"
gesammelt von Kajetan Alois Gloning
IV. Mythische Sagen