Der letzte Wolfsegger

Einst hauste auf der Burg Wolfsegg ein mächtiger, aber ebenso geiziger Ritter, namens Wolf. Er hatte eine einzige Tochter, welche Elsbeth hieß und wegen ihrer Schönheit und der Reichtümer ihres Vaters von den edelsten Söhnen des Landes umworben wurde. Sie aber schenkte ihr Herz Konrad, einem armen Jüngling aus niederem Stande, und beide blickten von düsteren Ahnungen erfüllt, zaghaft in die Tage der Zukunft.

Als Wolf die Liebe seiner Tochter entdeckte, wurde er vom höchsten Grimm erregt und mauerte sein einziges Kind in eine verborgene Zelle ein. Seinem Gesinde aber verkündete er, dass Elsbeth gestorben sei und heuchelte innigen Vaterschmerz. Im Saale wurde ein verschlossener, mit Steinen gefüllter Sarg zur Schau aufgestellt, und nach drei Tagen senkte man denselben in die Gruft.

Elsbeth aber lebte in ihrer Zelle und nachts brachte ihr der Vater die Nahrung. Als Konrad die Nachricht von Elsbeth's Tode erhielt, da brach sein Herz, und als im Herbste die Blätter von den Bäumen fielen, trug man ihn zu Grabe. Zu gleicher Zeit starb auch Elsbeth in ihrem Kerker.

Nun erfassten den grausamen Vater die Gewissensbisse, sein einziges Kind, seinen größten Schatz hatte er von sich gestoßen und langsam gemordet. In der schrecklichsten Seelenpein starb er, der letzte seines Namens.

Elsbeth fand aber im Grabe keine Ruhe; stumm wandelt sie um die Mitternachtsstunde im Schloss umher. Ihr Erscheinen ist der Vorbote eines Unglücksfalles, worüber eine hochachtbare Persönlichkeit das nachstehende Erlebnis erzählt haben soll.*)

Vor vielen, vielen Jahren kam ich in den Ferien als junger Student mit mehreren Kollegen nach Wolfsegg. Wir besahen uns das Schloss daselbst, in welchem uns unter anderem auch die Stelle gezeigt wurde, wo des letzten Wolfseggers Tochter Elsbeth eingemauert gewesen sein soll.

Als wir unser Nachtquartier in einem Gasthause des am Fuße des Schlosses gelegenen Marktes aufgesucht hatten, bemerkten wir plötzlich in den Fenstern desselben, und zwar in dem Saale, woselbst sich ein großes Bild, die Hochzeit von Canaa darstellend, befand, ein ungewöhnlich und herumflackerndes Licht, welches ebenso plötzlich nach einiger Zeit wieder verschwand.

Als wir anderen Tages unsere Wahrnehmung im Schloss erzählten, teilte man uns mit, dass in jenem Teil des Schlosses bei Nacht niemand komme, und der Castellan äußerte sich, als er unsere Mittheilung hörte, in den Worten: „Nun, da wird es bald wieder was geben.“

Am nämlichen Tage noch kam nachmittags ein starkes Gewitter; der Blitz schlug in das Schloss ein und zwar gerade in den Saal, in welchem sich das erwähnte Bild befand, welches durch den Blitzstrahl bedeutend beschädigt wurde.



aus "Oberösterreichische Volks – Sagen"
gesammelt von Kajetan Alois Gloning
V. Romantische Sagen (Sagen verschiedenen Inhaltes)