Das Nachtveilchen

Als unser Heiland am Kreuze dem Tode entgegensah, da versenkte sich die ganze Natur in tiefe Trauer, die Bäume neigten ihre Äste weit zur Erde herab und nässten den Boden mit reichen Tränen, die Blümlein schluchzten, helle Tropfen perlten aus ihren Kelchen, und süßen Duft sendeten sie empor zum Heiland, um ihn in seiner Qual zu erquicken. - Als aber Christus am Kreuze die sieben Worte gerufen, in denen sich sein Schmerz abspiegelte, als die Sonne am Himmel erlosch und die ganze Natur vor Schmerz zu vergehen schien, da ergriff die Blümlein eine tiefe Niedergeschlagenheit; sie neigten entsetzt ihre Köpfchen und vergaßen, in tiefen Schlummer verfallend, des göttlichen Sterbenden.

Nur das Nachtveilchen überwand Schwäche und Angst, es duftete fort, und als das Gotteslamm bereits im Tode erstarrt war, da umfloss die heilige Leiche noch immer der süße Hauch der treuen Nachtviole. Erst gegen Morgen überwältigte die schwache Pflanze die Ermüdung, sie erbebte dreimal von der Wurzel bis zur Krone und entschlummerte.

Da trat der Engel des Herrn zu ihr, segnete sie und sprach: „Schlumm‘re sanft, Du hast die Ruhe wohl verdient! Schlumm‘re zur Zeit, da die anderen wachen und wache, wenn die da schlafen. So will es Gottes heiliger Wille. Du sollst nicht die Schwüle des Tages ertragen müssen; wenn du wachst wird es kühl und ruhig sein rings um Dich. So wie Du den Erlöser in seiner letzten Stunde gelabt, so sollst Du fürderhin den Pilger erquicken, der einsam in der Nacht dahinschreitet, und birgt ein Weh seine Brust, so wirst Du sein Tröster sein!“

Und seit dieser Zeit wacht und duftet das Nachtveilchen in der Nacht.



aus "Oberösterreichische Volks – Sagen"
gesammelt von Kajetan Alois Gloning
V. Romantische Sagen (Sagen verschiedenen Inhaltes)