Das Kind im Grundstein

Im unteren Mühlviertel, wenige Stunden von Käfermarkt, liegt die Burg Reichenstein in sehenswerten Trümmern.

Sie hatte einst ihren eigenen Adel, aus welchem Poppo, unter dem Böhmenkönige Ottokar und Rudolf von Habsburg, urkundlich vorkommt. Ein Herr von Reichenstein war 1479 bei dem 28. Turnier in Würzburg, und Jakob von Reichenstein nahm im Jahre 1484 an dem Turnier in Stuttgart teil.

Das Schloss Reichenstein kam im Jahre 1558 nach den Lichtensteinern in den Besitz der Edlen von Haym, die um das Jahr 1400 in Steyermark genannt wurden und nach Oberösterreich einwanderten.

Christoph von Haym wollte das schon sehr herabgekommene Schloss vom Grunde aus neu und prächtig aufführen. (Nach einer anderen Version handelte es sich nur um einen Zubau.)

Mit vieler Feierlichkeit, so erzählt die Sage, wurde nach damaliger Sitte der Grundstein gelegt. Den Abend darauf vermisste der Besitzer des der Burg nahe gelegenen Bauernhofes, der Geisruck genannt, sein einziges Kind, einen zweijährigen Knaben. Nichts half das ängstliche und unermüdliche Suchen; das Kind kam nicht wieder zum Vorschein. Dem allgemein herrschenden Aberglauben jener Zeit gemäß zweifelte der trostlose Vater nun keinen Augenblick mehr, das Verschwinden seines Kindes sei kein unglücklicher Zufall, sondern der Ritter Haym, sein Grundherr, habe sein Söhnlein in die Grundfeste eingemauert, um dadurch den neuen, stolzen Bau unzerstörbar und unüberwindlich zu machen.

Der namenlose Schmerz kochte Rache. Wenige Tage darauf tat Haym keinen Schritt, den der Geisruckbauer nicht belauerte, nicht verfolgte. Einst ritt Haym von seinem Maierhofe auf dem Gmeinerberge zurück nach seiner Burg durch einen kleinen Hohlweg, als der im nahen Gebüsche verborgene Feind drei Kugeln auf ihn losbrannte. Haym blieb sofort tot, und man beschuldigte dessen Reitknecht als Mörder, der auch gefoltert wurde.

Nach wenigen Wochen begann man auf des Geisruckers Feldern den Kornschnitt, und – aufschreiend vor Entsetzen – fand man die Leiche des Kindes. Das arme Knäblein hatte sich verirrt und aus dem hoch über sein Köpfchen emporragenden Roggen keinen Ausweg zum väterlichen Hause mehr finden können.

Dieser Fingerzeig über des Ermordeten Unschuld folterte nun des Bauern Herz dergestalt mit Kummer und Reue, dass er von dieser Stunde an ein sieches Leben führte und wie im Wahnsinn redete.

Die letzte Stunde erpresste seinen erbleichenden Lippen das Geständnis seiner ruchlosen Tat – es war sein letztes Wort.

Ein an einem Baum angebrachtes Bild zeigt noch die Stelle, wo Haym starb; früher soll ein gemauertes Denkmal an dem Platze der Untat gestanden sein.

Das Denkmal des erschossenen Christoph von Haym befindet sich in der Kapelle zu Reichenstein. Es ist ein kunstvoll aus italienischem Marmor gearbeitetes Meisterwerk.

Von Haym geht noch die Sage, dass er in türkischer Gefangenschaft saß. Da erschien eines Tages ein Pilger vor dem gefürchteten Sultan mit der Bitte, etwas singen zu dürfen. Der Wunsch wurde gewährt, und der Gesang des Fremden im Büßergewand wirkte derart auf des sonst so rauhe Gemüt des Herrschers, dass dieser erlaubte, sich von ihm eine Gnade erflehen zu dürfen. Der Sänger erbat sich die Freigebung Hayms, und der Sultan willigte ein.

Drei Tage vor der Freilassung reiste der Pilger wieder ab. Als nun der Schlossherr nach Reichenstein zurückgekehrt war, gab es selbstverständlich Feste in Menge. Bei einem großen Festmale nun, mitten im Freudentaumel, pochte es an die Saaltüre, und ein Pilger tritt ein und begehrt singen zu dürfen.

Feierliche Stille bemächtigte sich der Anwesenden. Und wieder singt der Fremde im Büßerhabit. Da, auf einmal erkennt der Gefeierte und mit ihm die ganze Tafelrunde, wie durch eine höhere Eingebung, den rettenden Engel. Haym sprang von seinem Sitze auf und drückte den hochherzigen Retter freudig bewegt an seine Brust.

Dieser aber schickte sich an, seine Oberkleider abzulegen, und vor der sichtlich erstaunten Versammlung stand niemand anderer, als des Burgherrn eigene, wirklich edle – Gemahlin.



aus "Oberösterreichische Volks – Sagen"
gesammelt von Kajetan Alois Gloning
V. Romantische Sagen (Sagen verschiedenen Inhaltes)