Wo selbst die Russen Angst bekamen

Der Grubmüllerhof
Der Grubmüllerhof. Foto: Thomas Schwierz

 Autorin: Elisabeth Schiffkorn


Wie von den Franzosenkriegen, blieb das Mühlviertel von kaum einem anderen Kriegsereignis verschont. So auch nicht von den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges, als die russische Besatzungsmacht das Mühlviertel bis 1955 in Beschlag nahm.

Ein notariell beglaubigtes Ereignis ist ein spannendes Dokument vom Anzeigen eines Vestorbenen, bei dem ebenso klirrende Fensterscheiben eine Rolle spielen. Beim Lesen klingt auch heute noch die Erschütterung der Beteiligten durch: „Eine denkwürdige Geschichte soll sich während der Besatzungszeit auf dem Bauernhof Grubmüller zugetragen haben. Man wäre ja fast geneigt, den Bericht ins Reich der Fabel zu verweisen, hätte nicht der 2004 verstorbene Johann Kastner, dem gut 50 Jahre danach noch ein leichter Schauer im Nacken saß, für die Authentizität der Geschichte seine Hand ins Feuer gelegt. War er schließlich Augenzeuge, wie er auch dem Autor dieses Buches glaubhaft beteuerte! Die Niederschrift der Ereignisse verdanken wir Rupert Vierlinger.

Seine Aufzeichnungen sind hier wiedergegeben: 
„Der unheimliche Fremde“ am Grubmüller-Hof. Franz Grubmüller: „Kein anderes Erlebnis in meinem Leben war so gewaltig wie dieses!“ Ein knappes Jahr war seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen. Der größere Teil der am Leben gebliebenen Soldaten war bereits heimgekehrt. Der einzige Sohn des alten Grubmüller-Ehepaares war nicht unter ihnen. Er war zur Waffen-SS eingezogen gewesen und 1944 gefallen.

Die Menschen in der zerbombten Heimat waren dankbar, dass sie davongekommen waren, aber viele litten Hunger und hausten in Notunterkünften. Der wieder erstandene österreichische Staat war unter die Herrschaft der Siegermächte gekommen; die Gegend nördlich der Donau war von der russischen Besatzungsmacht okkupiert.

Der Grubmüllerhof gehörte zur russischen Zone. Er liegt am Talschluss des Dießenleitengrabens, der sich vom Urfahraner Stadtteil Harbach aus in nordwestlicher Richtung in die Ausläufer des Mühlviertler Granitmassivs eingegraben hat. Der Hof war zu jener Zeit von den Bauersleuten, deren 26-jährigem Ziehsohn Karl, den Untermietern Arthur und Camilla Fischer und dem jetzigen Altbauern Franz Grubmüller bewohnt. Das Besitzerehepaar war gut in den Fünfzigern, die Fischers waren ungefähr gleich alt. Franz, der Neffe der Bauersleute, war 17 Jahre alt. Er war vom Onkel und der Tante gebeten worden, zu ihnen zu ziehen, um ihnen bei der Arbeit zu helfen, und war nun nach dem Tod von deren eigenem Sohn als Hoferbe ausersehen. Eigentlich gab es – vom Stallvieh abgesehen – noch einen Mitbewohner: Gams, den großen und sehr scharfen Hund, einen Vertreter der Boxer-Rasse.


Am Abend des 18. März des Jahres 1946 saß diese Hausgemeinschaft friedlich beim Kachelofen beisammen. Plötzlich schreckte sie ein starkes Klopfen an der Haustür auf. In jenen gefährlichen Zeiten war es nicht ratsam, die Tür gleich zu öffnen, vielmehr wurde gefragt, wer denn draußen sei. Es blieb stumm. Die Hausbewohner erhoben sich von den Plätzen und gingen zögernd in den Flur. Nochmals fragte der Bauer, wer denn draußen sei. Als wieder keine Antwort kam, entriegelte er die schwere Tür schließlich doch, und die Männer traten eng aneinander gedrängt hinaus. Niemand war zu sehen. ‘Irgendwer wird sich einen Spaß erlaubt haben’, sagten sie, um sich gegenseitig zu beruhigen. Dann gingen sie wieder ins Haus. Die friedliche Abendstimmung von vorhin wollte sich nicht mehr einstellen. Plötzlich klirrte es am Fenster und einige Scheiben zerbrachen. War es ein Wurfgeschoß gewesen? Anscheinend nicht, denn es hätte in den Raum hereinfallen müssen! Die Männer sprangen auf und stürmten ins Freie. Sie liefen um das ganze Haus, am Fenster mit der zersprungenen Scheibe vorbei, hin zur Stallwand, zum Stadel, zum Wagenschuppen und um das Stöckl herum bis zur Hoftür, sahen aber niemand. Das lag nicht etwa an der Dunkelheit, nein, denn es war eine Nacht des strahlenden Vollmondes. Betroffen zogen sie sich wieder in die Stube zurück. Die Stunden verrannen, ans Schlafen dachte niemand, die Erregung hatte die Müdigkeit vertrieben. Als es gegen Mitternacht ging, schreckte Karl plötzlich auf, zeigte in den südlichen Winkel des Hofes und schrie: ‘Dort steht er!’ Im nächsten Moment flog ein Stein, groß wie eine Männerfaust, beim Stubenfenster herein und kollerte über den Bretterboden. Karl war ein kräftiger und mutiger junger Mann. Er warf sich in die Brust und zischte: ‘Jetzt werde ich es dir zeigen!’ Aber er war nicht weiter als bis zur Gred, den mit Steinplatten befestigten Weg vor der Haustür, gekommen, da humpelte er auch schon wieder herein. Ein Stein hatte ihm das Schienbein blutig geschlagen! ‘Unten im Hof steht ein großer schwarzer Mann’, sagte er schaudernd, ‘der ist es gewesen!’ Karl Fischer, ein Reichsdeutscher, nahm sich ein Herz und eilte mit dem Hund hinaus: ‘Gams, huss!’, hetzte er und der Hund jagte kläffend in die besagte Ecke.
Was ihm dort geschehen ist, bleibt ein Geheimnis. Winselnd kam er zurück, die Haare gesträubt, den Schwanz eingezogen. Er verkroch sich und war von da an nicht mehr einsetzbar. Den Mann hatte außer Karl niemand gesehen. Die zitternden Menschen zogen sich in die Behausung zurück und schlossen sich ein. Nun setzte sich der Terror mit den klirrenden Fensterscheiben fort. Immer wieder zerbarst eine. Das eine oder andere Mal flog ein Stein herein; zwischendurch aber auch wieder nicht. Um etwa vier Uhr früh trat Ruhe ein.


Der 19. März ist der sogenannte Josefitag, der damals noch ein Bauernfeiertag gewesen ist. Franz ging zu seinem Elternhaus, das etwas stadtnäher im Dießenleitengraben steht, und erzählte von den Ereignissen. Sein älterer Bruder Lois war gesund vom Krieg heimgekommen und war das, was man einen schneidigen Burschen nannte. ‘Warum hast du mich nicht geholt?’, tadelte er seinen Bruder. ‘Den hätten wir ausgehoben!’ Weil man nicht sicher sein konnte, ob der Spuk sich in der kommenden Nacht nicht wiederholen werde, begab sich Lois am Abend in den Grubmüllerhof. Er hatte einigen Bekannten davon erzählt und sie eingeladen mitzukommen. Einer von diesen aber war in die andere Richtung gegangen, talwärts, stadtwärts. Wollte er sich feige drücken?


Neun Männer waren es, die nun in der Stube versammelt waren: neben den bereits bekannten die zwei Rinner-Brüder, der Hinterberger, der Fürlinger Hans und der Kastner-Nachbar. Sie waren mit Knütteln, Hacken und Messern ausgerüstet.

Um halb acht Uhr trommelte es wieder an der Haustür. Die Männer liefen hinaus und drohten: ‘Wart, du Hund, heut kriegen wir dich!’ Sie konnten aber niemanden sehen, obwohl wieder eine mondhelle Nacht angebrochen war. Plötzlich flogen ihnen grober Sand und Erdbrocken entgegen. Die Geschoße prasselten an die Hauswand und – soweit es Bewohner des Hofes waren – auch auf die Umstehenden. Das blieb auch bei späteren ‘Beschießungen‘ so: Nur die Hausleute wurden getroffen. Abgesehen vom Stein, der das Schienbein des Karl verletzt hatte, waren die Wurfgeschoße eigentlich nicht gefährlich, wohl aber völlig unberechenbar: Kam das eine von vorn, traf das andere gleich darauf den Rücken. Die doch so kämpferisch gesinnten Männer wurden kleinlaut und suchten den Schutz des Hauses. 

Um das nächste Ereignis zu verstehen, muss man sich die Architektur der bäuerlichen Haustüren der damaligen Zeit vergegenwärtigen. Der Türrahmen, das sogenannte Türgericht, war aus Stein und hatte zwei Überleger (Querbalken), die in einem Abstand von etwa 20 cm übereinander lagen. Die dadurch entstehende Öffnung nannte man Oberlichte. Im Sommer flogen durch sie die Schwalben ein und aus, in der kalten Jahreszeit wurde sie mit einer Art Fenster verschlossen. Als sich nach geraumer Weile der Fischer Karl wieder hinaus wagte und lauernd in der Türöffnung stand, zerbrach plötzlich das Glas der Oberlichte. Nun rückten die Männer wieder aus. Sie hatten neuen Mut gefasst und beschlossen, die einzelnen Gebäudeteile des Wirtschaftstraktes zu durchkämmen. Vier von ihnen mussten an den Ecken des Gehöftes Wache stehen. Das große Tor in der Mauer, die den Dreiseithof nach Süden abschloss, war versperrt; der Feind konnte also nur irgendeine Luke oder Nebentür benutzen, und dort wollte man ihn abfangen. Die mit ihren Hieb- und Stichwaffen bewehrten Wächter walteten auch sorgsam ihres Amtes: Als nämlich der Kastner-Nachbar zu seinem Haus laufen wollte, um die Sturmlaterne zu holen, wollte sich einer gleich auf ihn stürzen. ‘Geh Depp!’, rief ihm der Bedrohte zu, ‘das bin ja nur ich!’ Als er mit der Sturmlampe, einer Petroleumlampe mit blechernem Tank und einem Schutzgitter über dem Zylinder, zurückkam, begann der Suchtrupp mit seinem Vorhaben. Die Männer begaben sich zuerst auf den unteren Boden, in welchem Stroh gelagert war. Sie stachen mit den Mistgabeln ins Stroh und durchwühlten es, fanden aber nichts. Dann kletterten sie über die hölzerne Stiege auf die Diele, die schon leergeräumt war. Im anbrechenden Frühjahr waren die Vorräte ja doch schon einigermaßen geschrumpft. Plötzlich schrie Karl: ‘Da oben ist er, auf dem Tram!’ Die anderen sahen nichts. Der Kastner-Nachbar nahm sich ein Herz und hantelte sich auf der unverputzten Mauer hoch. Man reichte ihm die Sturmlampe nach. Er stellte sie auf den Tram, auf dem die Sparren des Daches auflagen. Auf einmal gab es einen scharfen Schlag, als würde Blech durchstoßen, und die Lampe flog in hohem Bogen ins Stroh hinunter. Der Kastner sprang ihr mit Todesverachtung nach, denn wehe, wenn sich das Stroh entzündete! Die anderen hasteten die Stiege hinunter. Die Lampe war, Gott sei Dank, erloschen. Aber auch das Öl war ausgeronnen, denn in den Tank war ein Loch geschlagen worden, groß genug, um den kleinen Finger hineinstecken zu können.
Als sich die Männer in den anschließenden Teil des Oberbodens begaben, sah Franz, der spätere Bauer, beim herzförmigen Guckloch, das die Zimmerleute in die Bretterwand geschnitten hatten, hinaus und erschrak: Drei Männer robbten im Seitengraben des Dießenleitenweges herauf, zwei davon mit Gewehren im Arm. Die drei entpuppten sich aber als Helfer. Der eine Kollege des Lois, der sich abgesondert hatte, war zur russischen Kommandantur gegangen und hatte um Schutz gebeten. Zwei Soldaten waren mitgekommen.
‘Wo Bandit?’, radebrechte der eine. Sie eilten in die Lagerräume, stießen mit ihren Bajonetten in die Stroh- und Heuhaufen. Kaum kam ihnen etwas verdächtig vor, schossen sie auch schon darauf. Die Kugeln pfiffen vor allem in die finsteren Giebel des Daches, sodass viele Ziegel kaputtgingen. Auch Fenster gingen wieder kaputt in dieser Nacht, aber das kam von dem ‘Anderen’. Rar waren sie schon geworden, die Fensterscheiben, die noch ganz waren. Als der eine Soldat sein Magazin verschossen hatte, beugte er sich außerhalb des Scheunentores über seine Waffe, um ein neues einzulegen. Da sauste ein faustgroßer Stein nieder, dicht an seinem Kopf vorbei. Er bekam es mit der Angst zu tun, rief seinen Kameraden zu sich, und sie verabschiedeten sich mit den Worten: ‘Da nicht gut!’

Einer der Männer begab sich schließlich zur Station der von der Besatzungsmacht bereits genehmigten österreichischen Hilfspolizei und kam mit zwei Beamten zurück. Sie legten sich auf einem Dachvorsprung auf die Lauer, aber von nun an blieb es ruhig. Um vier Uhr früh soll nach der Aussage des ‘schneidigen Lois‘ ein Ruck durchs Haus gegangen sein, gleich einem letzten Stoß beim Erdbeben. Der Bauer habe erleichtert ausgerufen: ‘Jetzt hat er sich abgemeldet!’

Das Ereignis wurde mir am 25. Jänner 1998 im Altersheim Gramastetten von den drei noch lebenden Zeitzeugen erzählt: von Franz Grubmüller, dem inzwischen in Rente gegangenen Hoferben, seinem Bruder Lois, der nun schon seit Jahren an der Parkinsonschen Krankheit leidet, und von Johann Kastner, dem befreundeten Nachbar. Linz, am 13. März 1998.”
Beim Brand des Grubmüller-Bauernhauses in Neulichtenberg, Gem. Gramastetten, wurde bei Abtragung einer Mauer ein unterirdischer Gang vom Bauernhaus zur ungefähr 200 m entfernt gelegenen und und zum Haus gehörigen Mühle entdeckt.


Aus dem Buch "Sagenstraßen in Urfahr-Umgebung. 27 Gemeinden und ihre Geschichten." Das Oberösterreichische Sagenbuch, Band 3 von Schiffkorn, Elisabeth. (Kap. Gramastetten, S. 176–182)

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